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„Das klingt wie ein bellum privatum.“
Pauline Preston und schlang ihre Strickjacke enger um sich. Sie reichte ihr bis zu den Fußgelenken und erinnerte Sofi an den Morgenmantel von Sherlock Holmes. „So etwas hat es in der Frühzeit Roms gegeben. Zu Beginn des fünften Jahrhunderts haben die Fabier, eine Patrizierfamilie aus Rom, gegen die etruskische Stadt Veii gekämpft.“
„Eine Familie gegen eine Stadt?“, wunderte sich Sofi.
„Dabei ging es um Landansprüche.“
Sofi dachte an Gier. „Und warum klingt es nach einem bellum privatum?“
„Weil es eine Kriegerklärung nach römischer Art ist. Und wohl auch nach etruskischer, aber das ist nicht so gut belegt.“
Sofi stellte die Teetasse auf dem Tisch ab. „Moment bitte. Was für eine Kriegserklärung?“
„Das Auftauchen der Männer. Sie sind Fetialen.“
Sofi war nun vollkommen verdutzt, weil ihre Geschichte für Pauline anscheinend gar kein unlösbares Geheimnis darstellte. Sie entdeckte ihren Schreibblock auf dem Tisch und griff reflexartig danach.
„Fetialen?“
„Wenn das alte Rom einem Land den Krieg erklären wollte, lief das so ab: Man sandte ein Kollegium. Dieses Kollegium war eigentlich eine Priesterschaft, die nur aus Patriziern bestand. Sie trugen weiße Tücher und hatten sie stets über den Kopf gezogen. Diese Fetialen gingen bis zur Grenze des Landes und blieben davor stehen. Sobald sie den ersten Einwohner entdeckten, der zufällig vorbeikam, richteten sie ihr Wort stellvertretend an ihn. Das konnte irgendjemand sein, ein Bauer oder ein Wachmann. Der Anführer der Fetialen trug die Vorwürfe Roms gegen dieses Land vor und verlangte Wiedergutmachung innerhalb einer Frist. Der Angesprochene verstand natürlich die Sprache der Fetialen gar nicht. Es geht hier nur um das Ritual. Die Frist verstrich dann nach dreißig Tagen, wenn die Wiedergutmachung bis dahin nicht geschehen war. Genau wie in deinem Fall, da sind es ebenfalls genau dreißig Tage. Dann kehrten die Fetialen zum Gegner zurück. Diesmal machten sie nicht an der Grenze halt. Sie riefen die Götter des Gegners auf, sich auf die Seite Roms zu stellen. Deshalb gab es in Rom auch so viele Kulte fremder Götter. Mit dem Werfen des Speeres ist der Krieg begonnen. Es ist die erste Kriegshandlung.“
„Also ein religiöses Ritual, aber der wahre Kriegsgrund ist etwas Handfestes?“
„Natürlich. Mir fällt noch etwas auf. Darf ich mal deinen Block haben?“
„Ja, bitte.“
„Hier hast du einen Kreis gezeichnet.“
„Das ist die Mauer um die Botschaft. Der Umriss ist rund wie ein Kreis. Und das da ist die Stelle, wo sie wohl bei ihrem ersten Besuch die Mauer überwunden haben.“
„Wo liegt die Einfahrt?“
„Hier im Norden.“
„Nachdem in dem Text neulich so viele religiöse Begriffe steckten, halte ich das nicht für einen Zufall. Ich zeige dir etwas.“
Pauline ging ins Nebenzimmer und kehrte mit einem aufgeschlagenen Buch zurück. Darin war ein Kreis abgedruckt, der wie Sofis Kreis von einer Nord-Süd- und einer Ost-West-Achse durchschnitten wurde.
„In eurem Text tauchte ja der Begriff der Blitzschau auf. Und das hier ist ein Himmelsschema, ein templum augurale. Für die Blitzschau haben die Etrusker den Himmel mit den beiden Achsen in diese vier Abschnitte unterteilt und jeden dieser Abschnitte dann noch weiter in vier Sektoren. Deshalb besteht der Kreis aus sechzehn Sektoren. Jeder ist einem Gott zugeteilt, der Blitze schleudern konnte. Bei einem Gewitter hat man diesen Kreis um den Betrachtungspunkt gezogen. Der Eintrittspunkt des Blitzes in den Kreis gibt also Aufschluss darüber, welcher Gott den Blitz geschleudert hat. Und hier geschah das Eindringen im Nordwesten. Und diese Richtung ist äußerst unheilverheißend.“
Sofi sank in die Lehne ihres Stuhls. „Ist das nicht ein wenig zwanghaft?“
„Diese Dinge waren bei den Etruskern noch viel bestimmender, als wir uns vorstellen können.“